Erlebt - Das 9-Euro-Abenteuer - Tag 2

Das 9-Euro-Abenteuer – Tag 2



Leipzig – Dessau – Berlin

Das Budget-Hotel in Leipzig hat sich als Glücksgriff erwiesen. Das Zimmer mit Stockbett ist klein und schlicht, aber es gibt eine eigene Nasszelle und vor allem ist es klimatisiert. Außerdem ist das Frühstück sehr anständig und so ziehen wir gestärkt los.

Mit der Straßenbahn geht's zum Völkerschlachtdenkmal – ein Muss für Leipzig-Reisende. Einen so riesigen und hässlichen Klotz, aus dem überkommener Nationalismus quillt wie der Inhalt eines Hundekackebeutels in der Sonne, bekommt man selten zu Gesicht. Dennoch: sehenswert. Ich fühle mich angesichts der überlebensgroßen Steinfiguren und der Symbolik stark an die Zwergenstadt unter dem Berg aus „Der Hobbit“ erinnert. Doch, ich bin sicher: hier waren Zwerge am Werk. Wir verzichten auf die kostenpflichtige Besichtigung der Ruhmeshalle und der Krypta im Inneren und nehmen die nächste Tram, um die Innenstadt zu entdecken.

Die Jungs sehen den Turm des „City-Hochhauses“ mit der schrägen Spitze, der die ganze Stadt überragt und beschließen: da müssen wir rauf. Tatsächlich führt ein Aufzug bis oben und für ein paar Euros darf man bis aufs Dach klettern. Mit 130 Metern ist das der höchste Aussichtspunkt Mitteldeutschlands (und für eine Zeit war es sogar mal das höchste Gebäude Gesamtdeutschlands). Der Ausblick auf die Stadt und das Umland ist wirklich atemberaubend, das hat sich gelohnt.

Wieder unten angelangt, nehmen wir die Innenstadt in Angriff. In den frühen Achtzigerjahren war ich schon einmal hier und hatte die Stadt – damals noch unter dem DDR-Regime – als düster und deprimierend empfunden. Leipzig ist heute nicht wiederzuerkennen: bunt, aktiv und lebensfroh präsentiert sich die Stadt als wahres Juwel und wir fühlen uns hier auch nach einer ausgiebigen Besichtigungstour sehr wohl. Tolle Architektur, schöne Passagen, hübsches Stadtbild. Und hier gibt's dann auch den Bubbletea , den wir uns in Nürnberg versagen mussten. Am Nachmittag buchen wir mit dem Handy eine Bleibe für zwei Nächte in Berlin und bleiben auf dem Weg zum HBF noch in den „Höfen am Brühl“ hängen, einer großen Mall, in der sich mein Ältester im „Sale“ noch langärmlige Sweater kauft - falls im Zug mal wieder die Eiszeit ausbricht.


Der Bahnsteig ist voll und wir machen uns darauf gefasst, Sitzplätze erkämpfen zu müssen, aber die Sorge stellt sich als unbegründet heraus. Wir sitzen zusammen,  haben Beinfreiheit, der Zug ist angenehm klimatisiert und zum allerersten Mal auf unserer Reise fährt eine Bahn pünktlich ab. Es gibt sogar funktionierendes WLAN! Und zum ersten Mal erscheint auch ein Zugbegleiter, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Endlich mal das 9-Euro-Ticket zeigen! – aber da hält der Zug in Dessau und wir müssen umsteigen. Wieder nix! ^^ Auch unser Anschluss nach Berlin ist nur mäßig voll und bietet den erhofften Sitzkomfort. So macht Bahnfahren Spaß.

Wir kommen entspannt und gut gelaunt in Berlin an. U-Bahn zum Hotel, einchecken und hoch mit den Reisetaschen in den zweiten Stock. Der Altbau hat keinen Aufzug, keine Air Condition und das Bettzeug für das dritte Bett bekommen wir in die Hand gedrückt, aber das Zimmer ist groß genug und die Betten sind ok. Gegenüber steht das Amtsgericht Schöneberg und seine Fassade ist eine einzige düstere Drohkulisse: „Ihr, die ihr eintretet: lasst alle Hoffnung fahren“. Manchmal spricht Architektur unüberhörbar.

Wir fahren zum Brandenburger Tor – Touristenpflicht – und sichten auf unserem Weg zum Reichstag einzelne Leute, die uns mit total widersinnigen oder komplett unverständlichen Schildern oder Transparenten entgegenkommen und überhaupt ziemlich verpeilt wirken. Da fällt es mir siedendheiß ein: für heute wurde ja wieder mal dazu aufgerufen, dass eine radikale Splittergruppe, die sich fälschlicherweise „Querdenker“ nennt und sich in gnadenloser Selbstüberschätzung für „Das Volk“ hält, millionenfach die Regierung stürzt oder zumindest der russischen Botschaft ausliefert oder irgend so etwas, die sind da nicht so konsistent.

Und da sehen wir sie auch schon auf der Wiese vor dem Reichstag: ein paar hundert Menschen, zusammengekarrt aus der ganzen Republik, die begeistert eine Rednerin beklatschen, die mehrmals hintereinander behauptet, alle Macht würde sich konzentrieren und die Diktatur sei auf dem Vormarsch. Es folgen die üblichen Verschwörungsmythen, auf die diese Klientel so anspricht. Gemäß der „Neuen germanischen Mathematik“ sind das wohl die „Millionen“, über die die Schwurbel- und Desinformationsmedien später berichten werden.

Nach ein paar Minuten wird mir klar: Das ist keine Demonstration. Das ist der Gottesdienst einer Sekte, die sich selbst beklatscht und denen, die früher als Sonderlinge oder Dorftrottel vereinsamt waren, das Gefühl geben: „Du bist nicht allein! Wir predigen den Bullshit, den du glauben willst! We are family!“ Und so wie eine Reduktion in der Küche immer weniger, aber intensiver wird, so schrumpft und radikalisiert sich auch diese Gruppe. Bis im Topf am Ende nur noch ein ungenießbarer, brauner Bodensatz übrig ist. Wir umkreisen die Menge und treffen in ihrem Rücken auf eine kleine, schwarzgewandete Antifa-Gegendemo, vor der ein paar unbeholfen wirkende Polizisten stehen. Einen Leerdenker, der durch dumme Fragen provoziert, halten die aber nicht auf. So stelle ich mich zur Gegendemo und argumentiere kräftig mit, bis meine Söhne mir bedeuten, dass ich jetzt gefälligst mitkommen soll. Papa politisiert wieder! *Augenroll*

Wir nehmen die neue U-Bahn vom Bundestag zurück hinter das Brandenburger Tor, um nicht noch einmal durch das fleischgewordene Narrenschiff gehen zu müssen. Die Dämmerung setzt ein und wir gehen „Unter den Linden“ entlang bis hinüber zum Alexanderplatz. Ich genieße immer noch das Gefühl, hier einfach so frei und unbeschwert und ohne jede Kontrolle gehen zu können – das werde ich den Kindern wohl nicht vermitteln können. Vor der Russischen Botschaft, die noch das alte Sowjetwappen trägt – jetzt kann man's ja vielleicht gleich dranlassen – ist eine kleine Gedenkstätte mit Blumen, Bildern, Texten und ukrainischen Fahnen aufgebaut worden, die der Opfer des russischen Kriegsverbrechens gedenkt.

Es sind nur noch wenige Leute unterwegs und das Licht taucht die Gebäude zu beiden Seiten in einen magischen Abendschein. Humboldt-Universität, die Gedenkstätte an die Bücherverbrennung der Nazis, Neue Wache, Dom, Schloss. Der Abend endet mit Currywurst und ein bisschen Gepöbel von ein paar Quarkdenkern, die sich an unseren Masken stören. Papa politisiert wieder, Söhne verdrehen die Augen – und am Ende sind wir wieder im Hotel und stellen fest, dass es so ohne Klimaanlage doch ganz schön warm ist.

Wir haben auf unserer Reise schon so viel gesehen und erlebt, dass es sich so anfühlt, als wären wir schon viel länger unterwegs als nur zwei Tage.

Share by: