Erlebt - Das 9-Euro-Abenteuer - Tag 1

Das 9-Euro-Abenteuer – Tag 1



Schorndorf – Crailsheim – Nürnberg – Leipzig

Die Reise beginnt mit einem Kompromiss, denn wir fahren mit dem Auto zum nächsten Bahnhof. Am letzten Tag könnte es spät werden – und dann kämen wir mit dem Bus nicht mehr nach Hause in den Schwäbischen Wald. Die Parkplätze rund um den Bahnhof wurden in Schorndorf konsequent abgeschafft, so dass wir noch eine Viertelstunde Fußweg haben. Der MEX – so heißen bei uns die Regionalzüge – nach Crailsheim kommt mit Verspätung, aber wir haben ein gutes Zeitfenster fürs Umsteigen und sind guter Dinge. Der Zug ist recht voll, aber wir finden Sitzplätze. Die Bahn von Crailsheim nach Nürnberg ist dann so voll, dass man nicht mal richtig stehen kann, also hängen wir in der Menge, eine Hand an irgendeiner Haltestange. Mein Ältester hat Glück, denn er findet genug Platz, um an der Tür auf dem Boden zu sitzen. Der erste Tipp für alle Regionalzug-Reisenden: Umsteigen ist immer ein Lottospiel. Seht zu, dass Ihr genug Luft zum Umsteigen habt, denn Verspätungen zwischen 5 und 15 Minuten liegen völlig im Rahmen – und dann kann der Anschlusszug auch mal weg sein.

Das Wetter in Nürnberg ist wunderbar und wir fahren mit der U-Bahn zur Innenstadt. Den ÖPNV zu nutzen, ohne sich Gedanken über Tarifzonen machen zu müssen: das hat was.

In der Stadt findet ein Bardenfestival statt und es ist eine Menge los. Meine Söhne begeistert die mittelalterliche Architektur der Stadt und wir marschieren durch die Altstadt am „Schönen Brunnen“ vorbei bis hoch zur Kaiserburg und nehmen viele Eindrücke auf. Klar: Nürnberger Rostbratwürstchen im „Bratwurströslein“ müssen natürlich sein. Die Schlange am Bubbletea-Laden ist leider zu lang, denn wir wollen unbedingt rechtzeitig am Bahnhof sein, um für die Weiterreise Sitzplätze zu ergattern. Der Regionalexpress fährt in 4,5 Stunden durch bis Leipzig – ein bisschen lang, um zu stehen.

Wir stehen rechtzeitig auf dem Bahnsteig, der sich stetig mit Menschen füllt. Aber der erwartete Zug kommt nicht – dafür dann irgendwann eine Durchsage, dass er nun einige Gleise weiter einfahren wird. Also Taschen geschultert, Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe wieder hoch. Da steht ein Zug, allerdings ist „Nürnberg HBF“ angeschrieben. Ist er das oder nicht? Auf den Anzeigetafeln am Bahnsteig erscheint jetzt der Hinweis, dass der RE geteilt ist – und nur die Wagen im Abschnitt E bis F fahren nach Leipzig. Dieser Zug endet allerdings in Abschnitt D. Kommen da noch Wagen? Ist das überhaupt unser Zug? Kein Bahnmitarbeiter ist zu sehen. Da öffnet sich das Fenster des Lokführers und der Mann schaut nach draußen. „Doch, doch,“ antwortet er mir: „Wir fahren nach Leipzig.“ Warum die Infotafel etwas ganz anderes sagt, weiß er auch nicht. Also nichts wie rein – jetzt ist der Zug natürlich nicht mehr leer, aber ganz vorne, vor der ersten Klasse, finden wir noch drei Plätze. Schön kühl ist es im Waggon und im Moment freuen wir uns noch darüber. Aber die Sitze sind extrem nah aneinander gebaut, man bekommt mit knapper Not die Füße auf den Boden und sie mal auszustrecken ist undenkbar. Als der Zug dann endlich mit deutlicher Verspätung losfährt, ist er proppenvoll und auch der Gang ist dicht gepackt mit Fahrgästen.
Leider gibt es überhaupt kein WLAN an Bord, was meinen Jüngsten verärgert, weil er das EM-Endspiel verfolgen wollte. Durch den ständigen Ausfall des Internets ist ein einigermaßen brauchbarer Stream nicht hinzukriegen. Wir steigen auf Audiokommentar um, aber auch da gibt's manchmal mehrere Minuten lang keine Verbindung.

Die Fahrtstrecke über den ehemaligen Hauptbahnhof Probstzella in Thüringen – da stiegen früher immer die DDR-Bahnpolizisten ein und verriegelten die Außentüren bis Dreilinden vor Berlin – ist landschaftlich sehr schön. Und da der Zug wirklich an jeder Milchkanne hält, lerne ich zahlreiche neue Ortsnamen wie Küps, Förtschendorf, Unterloquitz oder Breternitz. 


Direkt über uns bläst die Klimaanlage eiskalte Luft nach unten und nach einiger Zeit wird es unangenehm kalt. Wer eine Jacke hat, holt sie aus dem Koffer, aber viele haben nur die Sommerkleidung, die sie am Leib tragen, und frieren augenscheinlich ganz erbärmlich. Während der gesamten Fahrt taucht kein Zugpersonal auf, aber es wäre wohl sowieso nicht durchs Gedränge gekommen. Die Dame gegenüber hat ihrer kleinen Tochter schon eine Jacke angezogen; irgendwann zieht sie dann die eigene Jacke aus und fädelt die Beine des immer noch frierenden Mädchens hinein. Überall liest man, dass man die Klimaanlage im Auto nicht zu kalt einstellen soll, weil man sonst krank werden kann – aber die Bahn dreht eiskalt auf unter 20 Grad und setzt die Leute in einer Jahreszeit, in der alle im T-Shirt unterwegs sind, stundenlang diesen Temperaturen aus. Ohne jede Möglichkeit, etwa daran zu ändern. Was soll das? Ich habe eine Sweatjacke dabei und die bekommt jetzt erstmal mein Ältester. Später geht die Jacke dann im Ringtausch umher, damit wir uns alle mal aufwärmen können. Noch dazu ist es so wahnsinnig eng, dass ich von der Zwangshaltung irgendwann einen schmerzhaften Krampf im Bein bekomme. Ganz ehrlich: ich fühle mich nicht wie ein „Fahrgast“ von der Deutschen Bahn behandelt, sondern wie irgendeine billige Fracht. 9-Euro-Ticket hin oder her. Die Fahrt bleibt eine Tortur, bis wir endlich in Leipzig ankommen. 

Dort erwartet uns allerdings ein faszinierender Bahnhof – wunderschön renoviert, riesengroß, weitläufig, hell und mit zahlreichen Restaurants und Geschäften. Kein Vergleich mit Stuttgart, auch als das noch ein funktionierender Bahnhof war. Eigentlich fällt mir überhaupt kein Bahnhof in Deutschland ein, der diesem Prachtbau auch nur annähernd das Wasser reichen könnte. 

Das Hotel ist nur um die Ecke und für den Schnäppchenpreis, den wir zahlen müssen, sind wir hochzufrieden. Nach dem Einchecken ist es kurz vor 10 Uhr abends und so bleibt uns – wir wollen ja nicht groß und teuer essen gehen – nur die „Goldene Möwe“ im Hauptbahnhof, die 24 Stunden geöffnet hat. Zwischen den Kunden, die dort auf ihre Bestellung warten, läuft eine sehr schlanke, blonde Frau um die 30 umher wie ein Tiger im Käfig. Sie wirkt eigentlich gut gekleidet, ist aber unablässig in Bewegung und hat eine Art dunklen Ausschlag  im Gesicht – oder ist es Schmutz? Ich will nicht starren. Sie scheint ständig etwas laut zu rufen, aber man hört nur ein leises, unverständliches Murmeln. Was um sie her geschieht, scheint sie nicht wahrzunehmen – dennoch rempelt sie trotz ihre Tempos niemanden an. Wir essen unsere Burger später in der leeren Lobby des Hotels. „Finger weg von den Drogen“ sage ich und meine Söhne verstehen.

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