Erlebt - Das 9-Euro-Experiment

Das erste 9-Euro-Experiment

Aus erster Hand, exklusiv und in Farbe: Mein 9-Euro-Ticket-Experiment!

9-Euro-Ticket? OK - wie sinnvoll oder sinnlos das ist, wird ja landauf landab diskutiert, da möchte ich ausnahmsweise mal gar nicht meinen Senf dazugeben. Aber nun, wo das Ticket schonmal verfügbar ist, muss man das natürlich ausnutzen. Nicht nur beim täglichen Weg zur Arbeit - da bin ich schon am Testen - sondern in einem echten Feldversuch. Spontane Entscheidung von Sohn und mir am gestrigen Samstag: fahren wir doch mal nach Karlsruhe. Wir kennen bisher eigentlich nur den Zoo und ich war dort schon einmal auf einer Demo und weit ist es auch nicht. OK - es ist das erste Wochenende mit dem 9-Euro-Ticket, es ist Pfingstwochenende und es ist Ferienbeginn. Aber hey, es soll ja schließlich ein Abenteuer werden!

Also machen wir uns auf den Weg – erst mittags, als alle anstehenden Arbeiten erledigt sind. Der Bus zum nächsten Bahnhof in Schorndorf fährt pünktlich und der Fahrer unterhält uns mit kauzigem Gegrummel über Fahrgäste, die offenbar nicht wissen, wie die vorgeschriebene medizinische Maske aussieht - geschweige denn, wie und wo man sie trägt. Wir erreichen den Regionalexpress nach Stuttgart problemlos. Es ist ziemlich voll - keine Überraschung - aber wir ergattern noch Sitzplätze. Hin und wieder fährt die Bahn sehr langsam und einmal hält sie auf freier Strecke an, aber wir haben genug Zeit zum Umsteigen und so sind wir in Stuttgart rechtzeitig auf dem Gleis nach Karlsruhe.

Der Zug steht schon dort und sieht sehr voll aus, an den vorderen Türen steht Sicherheitspersonal. Wir haben Zeit, also beschließen wir, weit hinten einzusteigen. Tatsächlich finden sich noch Plätze neben einem Herrn, der in einer mir unbekannten Sprache abwechselnd laut telefoniert oder (auf deutsch) schimpft, dass die Telefonverbindung so schlecht sei. Gegenüber sitzt eine Familie mit dem obligatorischen laut schreienden Kind; glücklicherweise gelingt es der Mama aber, es zu beruhigen.

Als sich der Zug in Bewegung setzt, ist er brechend voll, nun stehen die Fahrgäste auch in den Gängen dicht an dicht. Es werden Fahrplanänderungen und ungeplante Halte angesagt, aber wir sind ja nicht in Eile und so kommen wir nach insgesamt ca. 4 Stunden Fahrzeit (ab zuhause) in Karlsruhe an. Mit der Straßenbahn fahren wir Richtung Schloss, nachdem wir uns auf den ausgehängten Plänen grob orientiert haben. Um Tarifzonen und ähnliches müssen wir uns ja nicht kümmern. Schon toll.

Am Bahnhof sind uns schon junge Leute aufgefallen, die mit LGBTQ-Fahnen herumlaufen. Und als wir am Marktplatz aus der Bahn steigen, die dort mittlerweile unterirdisch fährt, stehen wir tatsächlich mitten in einem CSD (Christopher Street Day), ohne dass wir gewusst hatten, dass der dort heute stattfindet. Wir wollten dieses Jahr ohnehin mehrere CSDs besuchen und freuen uns über diesen glücklichen Zufall. Es ist nett und bunt und wie immer trifft man lauter hochinteressante Menschen.

Wir gehen zum Schloss, mein Sohn trifft einen alten Schulfreund, der in Karlsruhe studiert und den er spontan verständigt hat, wir gehen zusammen Essen und es ist immer noch genug Zeit, um durch die Innenstadt zu bummeln und an der CSD-Bühne noch ein bisschen mitzufeiern. Hat es bei der Abfahrt zuhause noch geregnet, ist das Wetter jetzt fantastisch und wir genießen den Tag. Den Rückweg zum Bahnhof gehen wir zu Fuß, immer am Stadtgarten entlang. Von einer Fußgängerbrücke aus bekommen wir vom Zoo noch einen Elefanten und ein paar Pfauen zu sehen. Ein Pfau ist komplett weiß und rennt über die Wiese - er sieht aus wie eine Braut auf der Flucht, die eine weiße Schleppe hinter sich her zieht.

Unser Plan ist es, so rechtzeitig am Gleis zu sein, dass wir möglichst noch Sitzplätze finden, bevor es zu voll wird. Unser Zug soll eigentlich um 20.05 aus Gleis 13 fahren, aber die Bahn-App und die Anzeigen vor Ort informieren uns, dass wir heute auf Gleis 10 müssen. Am Bahnsteig sitzen schon einige CSD-Besucher, die man an ihren bunten Fahnen erkennen kann. Wir stehen in einem großen Durchgangsbahnhof, befremdlicherweise sehen wir aber auch eine Straßenbahn, die auf einem der Gleise steht. Die Anzeige an unserem Bahnsteig ist etwas verwirrend. Der IRE aus Stuttgart kommt um 19.53 an - allerdings soll man in diesen nicht einsteigen, angeblich endet der Zug hier. Eigenartig. Wird der Zug ausgetauscht? Schaffen die das in 12 Minuten? Oder läuft irgendeiner durch den Zug, checkt alles - und dann wechselt doch die Anzeige?

Von Gleis 13 hören wir eine Ansage: unser Zug würde heute von Gleis 10 fahren. Wissen wir. Aber nun wälzt sich von Gleis 13  eine Volksmenge die Treppen hinauf, die offenbar auch nach Stuttgart will - auweh, jetzt wird’s eng. Die Anzeige auf Gleis 9 kündigt jetzt den nächsten IRE nach Stuttgart an, der um 20.33 Uhr fahren soll. In diesem Moment wechselt die Anzeige an unserem Gleis. In groß wird jetzt eine Bahn nach Bruchsal angekündigt, die um 20.28 fahren soll, unser Zug steht darunter unter „Folgezüge“, immer noch mit der Abfahrtszeit 20.05. What? Hier kann etwas nicht stimmen. Dafür wird der der Zug aus Stuttgart jetzt mit 5 Minuten Verspätung ankommen. Und in diese Moment ist eine Durchsage zu hören. Der Zug aus Stuttgart - so sagt man uns - wird auf Gleis 13 einfahren, nicht hier. Alle sehen sich groß an. Dort steht immer noch, dass unser Zug von Gleis 10 abfahren soll, aber kann das sein, wenn er auf Gleis 13 einfährt? Haben die das nicht aktualisiert oder sind es doch zwei verschiedene Züge?


Während ich noch überlege, setzt sich die Volksmenge wieder in Bewegung und bewegt sich hektisch die Treppen hinunter, zurück in Richtung Gleis 13. Es glaubt wohl niemand mehr, dass unser Zug hier abfahren wird. Unsere Hoffnung auf Sitzplätze schwindet und auch wir lassen uns von der Masse die Treppe hinunter und durch einen düsteren Gang auf Gleis 13 schieben. Hier sieht es jetzt wirklich aus wie am ersten Tag des Sommerschlussverkaufs. Endlich fährt der Zug ein. Auf den Anzeigen der Waggons steht „Nicht einsteigen!“. Ja, was denn jetzt? Wir treten etwas vom Bahnsteig zurück, damit die Leute aussteigen können. Aber das wird schwierig, denn die Menge hat jetzt ein üble Dynamik entwickelt und einige stürzen schon in den Zug hinein, während andere noch heraus wollen. Wir warten erstmal draußen; Sitze gibt es ohnehin keine mehr und noch bin ich nicht überzeugt, ob dieser Zug wirklich wieder zurück nach Stuttgart fährt. Irgendwie fühlen wir uns - auf gut Deutsch - verarscht. Und die spärlichen, widersprüchlichen Informationen der Bahn verstärken das Chaos auch noch. Nun kommt auch eine Durchsage am Bahnsteig: „Dieser Zug fährt nicht nach Stuttgart! Dieser Zug bleibt in Karlsruhe!“

Alle sollen aussteigen. Einige tun das, andere bleiben stur im Zug sitzen. Es wird lauter auf dem Bahnsteig und die Stimmung droht zu kippen. Sohn und ich sehen uns an. Wenn die Leute den Zug nicht verlassen, kann er nicht wegfahren - und dann kann auch der richtige Zug nicht einfahren. Es ist 20.10 Uhr, wir werden unseren Anschluss in Stuttgart sowieso nicht erreichen. Und wir beschließen, zurück zu Gleis 9 zu gehen, denn dort war ja der Zug nach Stuttgart angekündigt, der um 20.33 fahren soll. Da stehen die Chancen besser, dass wir hier wegkommen. Als wir uns in Richtung Treppe auf den Weg machen, kündigt die Ansage an, wegen „renitenter Fahrgäste, die nach Stuttgart wollen“ würde die Bundespolizei jetzt den Bahnsteig räumen. Wir fliehen die Treppen hinunter und bringen uns auf Gleis 9 in Sicherheit. „Schau mal,“ ruft mein Sohn auf einmal und blickt durch einen Zug hindurch, „auf dem Zug da hinten steht ‚Stuttgart‘.“  Wo? Hinten auf Gleis 12! Das ist nirgends angekündigt, aber da hier auf dem Bahnsteig sowieso nichts los ist, gehen wir die Treppe wieder hinunter. Die Volksmenge bewegt sich unten durch den düsteren Gang in Gegenrichtung. Sie sind zu Gleis 8 unterwegs, erzählt man uns im Vorbeigehen, dort habe man ihnen jetzt den Zug nach Stuttgart angekündigt. Egal - wir wollen uns erst den rätselhaften Zug auf Gleis 12 ansehen, auf dem wir „Stuttgart“ gelesen haben.

Und tatsächlich: auf den Waggons ist Stuttgart angeschrieben, während die Hinweistafeln auf dem Bahnsteig aber einen ganz anderen Zug ankündigen. Am Zugende sehe ich Menschen in DB-Kluft - die ersten die ich seit einer Stunde ausmache - und ich laufe hin. Ja, tatsächlich: das hier ist der Zug nach Stuttgart, der um 20.33 Uhr fahren soll. Das ist zwar nicht das angekündigte Gleis 9, aber was soll’s: es gibt tatsächlich noch freie Plätze und etwas nervös setzen wir uns hin. Eine Ansage im Zug weist nochmal dringlich darauf hin, dass dieser Zug nach Stuttgart fährt und nicht - wie die Anzeigetafeln künden - nach Baden. Verwirrte Menschen steigen aus, andere steigen ebenso verwirrt ein.

Auf Gleis 8 sehen wir nun tatsächlich einen Zug einfahren, in den die wartende Menge strömt. Wir sind ehrlich froh, dass wir Sitzplätze haben und tatsächlich setzt sich unser Zug langsam in Bewegung. Bis Durlach müssen wir hin und wieder warten, weil vor uns irgendeine Regionalbahn unterwegs ist, aber dann läuft es und wir kommen heil und gesund in Stuttgart an. In der Bahn-App sehe ich, dass der andere Zug nur eine Minute vor uns angekommen ist. Unsere Bahn nach Schorndorf fährt erst 40 Minuten später ab und wir nutzen die Zeit, um die gigantische Bahnhofs-Baustelle anzusehen. Und damit wir in Schorndorf nicht noch eine weitere halbe Stunde auf den allerletzten Bus warten müssen, holt Sohn zwei uns mit dem Auto ab.

Fazit: es war spannend, chaotisch - und naja, wir wollten ja schließlich ein Abenteuer, oder nicht? Wir werden auf jeden Fall noch weitere Touren mit dem 9-Euro-Ticket unternehmen. Ist schon eine tolle Sache. 


Und ja: man kann das Leben auch in vollen Zügen genießen. ^^


(05.06.2022)


 (Das Filmchen hier drunter dampft unsere Erlebnisse übrigens in hollywoodgleichem Schnitt auf 2:18 Minuten ein - ich wollte es nur erwähnt haben).

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