Erzaehlt - Erinnerungskultur

Erinnerungskultur

„Wer ist die Frau auf dem Bild, Papa, die mit der blauen Jacke?“ fragte das Kind. Klaus sah in das Geschichtsbuch und meinte „Unsere frühere Bundeskanzlerin. Das war noch damals, bevor unsere Familie vor dem Wasser in die Berge flüchten musste. Es war keine schlechte Zeit und doch waren einige sehr unzufrieden“. 

„Was ist eine ... Kanzlerin, Papa?“ Klaus klappte das Buch zu und versteckte es wieder unter der Diele. Schließlich war „Erinnerungskultur“ verboten und Geschichtsbücher zählten dazu. „So etwas ähnliches wie der Volkspräsident, aber damals wurden die Politiker noch von den Bürgern gewählt. Aber das ist kompliziert, das erkläre ich dir ein anderes Mal.“

Klaus streichelte den Kopf des Kindes. „Jetzt mach' dich fertig. Wir müssen in den Keller, bevor die Sonne aufgeht, sonst tötet uns die Hitze“. 

„Wie war es damals, als man tags noch draußen sein konnte? Hat denn keiner vorhergesehen, dass das passieren würde?“ – „Doch, schon. Aber die Menschen hielten das für übertrieben und wollten sich nichts verbieten lassen. Sie nannten es Hysterie und wählten, was sie für eine Alternative hielten.“ 

Er seufzte. „Jetzt komm, es ist Zeit, Greta.“ Von draußen war das Geräusch im Gleichschritt marschierender Stiefel auf dem Asphalt zu hören.


(16.07.2021)

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